BVerfG 12, 205

From Ius

(Bundestreue) Im deutschen Bundesstaat wird das gesamte verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen dem Gesamtstaat und seinen Gliedern sowie das verfassungsrechtliche Verhältnis zwischen den Gliedern durch den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten beherrscht. Das Bundesverfassungsgericht hat daraus eine Reihe konkreter Rechtspflichten entwickelt. Im Zusammenhang mit Erwägungen über die Verfassungsmäßigkeit des sog. horizontalen Finanzausgleichs steht der Satz: "Das bundesstaatliche Prinzip begründet seinem Wesen nach nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Eine dieser Pflichten besteht darin, daß die finanzstärkeren Länder den schwächeren Ländern in gewissen Grenzen Hilfe zu leisten haben". Der Verfassungsgrundsatz kann ferner in Fällen, in denen das Gesetz eine Verständigung zwischen dem Bund und den Ländern fordert, eine gesteigerte Mitwirkungspflicht aller Beteiligten begründen und dazu führen, daß der einer allseitigen Verständigung entgegenstehende unsachliche Widerspruch eines der Beteiligten rechtlich unbeachtlich wird. Bei der Entscheidung über die Gewährung von Weihnachtszuwendungen an öffentliche Bedienstete haben die Länder Bundestreue zu wahren und deshalb auf das gesamte Finanzgefüge von Bund und Ländern Rücksicht zu nehmen. Noch stärker tritt diese Rechtsschranke aus dem Gedanken der Bundestreue bei der Ausübung von Gesetzgebungsbefugnissen zu Tage: "Bleiben die Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung nicht auf den Raum des Landes begrenzt, so muß der Landesgesetzgeber Rücksicht auf die Interessen des Bundes und der übrigen Länder nehmen". Aus dem Verfassungsgrundsatz der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten kann sich weiter die Pflicht der Länder zur Beachtung von völkerrechtlichen Verträgen des Bundes ergeben. Unter Umständen kann schließlich ein Land mit Rücksicht auf seine Pflicht zur Bundestreue verpflichtet sein, im Wege der Kommunalaufsicht gegen Gemeinden einzuschreiten, die durch ihre Maßnahmen in eine ausschließliche Bundeskompetenz eingreifen. Auch bei der Wahrnehmung der Bundeskompetenzen auf dem Gebiet des Rundfunks ist, wie oben dargelegt, der Satz vom bundesfreundlichen Verhalten von grundsätzlicher Bedeutung.

Die bisherige Rechtsprechung läßt erkennen, daß sich aus diesem Grundsatz sowohl konkrete, über die in der bundesstaatlichen Verfassung ausdrücklich normierten verfassungsrechtlichen Pflichten hinausgehende, zusätzliche Pflichten der Länder gegenüber dem Bund und zusätzliche Pflichten des Bundes gegenüber den Ländern entwickeln lassen als auch konkrete Beschränkungen in der Ausübung der dem Bund und den Ländern im Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen ergeben.

Der vorliegende Fall gibt Veranlassung, den verfassungsrechtlichen Grundsatz von der Pflicht zu bundesfreundlichen Verhalten nach einer anderen Seite weiter zu entwickeln: Auch das procedere und der Stil der Verhandlungen, die zwischen dem Bund und seinen Gliedern und zwischen den Ländern im Verfassungsleben erforderlich werden, stehen unter dem Gebot bundesfreundlichen Verhaltens. In der Bundesrepublik Deutschland haben alle Länder den gleichen verfassungsrechtlichen Status; sie sind Staaten, die im Verkehr mit dem Bund Anspruch auf gleiche Behandlung haben. Wo immer der Bund sich in einer Frage des Verfassungslebens, an der alle Länder interessiert und beteiligt sind, um eine verfassungsrechtlich relevante Vereinbarung bemüht, verbietet ihm jene Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten, nach dem Grundsatz divide et impera zu handeln, d. h. auf die Spaltung der Länder auszugehen, nur mit einigen eine Vereinbarung zu suchen und die anderen vor den Zwang des Beitritts zu stellen.

Jener Grundsatz verbietet es auch, daß die Bundesregierung bei Verhandlungen, die alle Länder angehen, die Landesregierungen je nach ihrer parteipolitischen Richtung verschieden behandelt, insbesondere zu den politisch entscheidenden Beratungen nur Vertreter der ihr parteipolitisch nahestehenden Landesregierungen zuzieht und die der Opposition im Bunde nahestehenden Landesregierungen davon ausschließt. Es ist in Fällen der hier erörterten Art das gute Recht der einer Partei angehörenden Politiker im Bund und in den Ländern, zunächst einmal in politischen Gesprächen ihre Auffassungen zur Lösung des den Bund und alle Länder interessierenden Problems zu klären und miteinander abzustimmen, auch während der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern sich über weitere gemeinsame Schritte zu verständigen. Die notwendigen Verhandlungen zwischen dem Bund und den Ländern, also zwischen den Regierungen und ihren Sprechern, müssen aber den oben dargelegten Grundsätzen entsprechen.

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