BVerfG 48, 89
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- | '''(Parlamentsvorbehalt)''' Das Grundgesetz spricht dem Parlament nicht einen allumfassenden Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zu. Es setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzzuordnung seinen Befugnissen Grenzen. Weitreichende - gerade auch politische - Entscheidungen gibt es der Kompetenz anderer oberster Staatsorgane anheim, wie zum Beispiel die Bestimmung der Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler (Art. 65 Satz 1 GG), die Auflösung des Bundestages (Art. 68 GG), die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 GG) oder wichtige außenpolitische Entscheidungen, wie etwa über die Aufnahme oder den Abbruch diplomatischer Beziehungen. Dem Bundestag, der solche Entscheidungen mißbilligt, verbleiben seine Kontrollbefugnisse; er kann gegebenenfalls einen neuen Bundeskanzler wählen und damit den Sturz der bisherigen Bundesregierung bewirken; er kann von seinen Haushaltskompetenzen Gebrauch machen - nicht aber erkennt ihm das Grundgesetz eine Entscheidungskompetenz in diesen Fragen zu. Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden. Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehrten. Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus der in Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers. Auch die unmittelbare personelle demokratische Legitimation der Mitglieder des Parlaments führt nicht schlechthin zu einem Entscheidungsmonopol des Parlaments. Die verfassunggebende Gewalt hat in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG auch die Exekutive als verfassungsunmittelbare Institution und Funktion geschaffen; ihre Verfahren zur Bestellung der Regierung verleihen ihr zugleich eine mittelbare personelle demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG | + | '''(Parlamentsvorbehalt)''' Das Grundgesetz spricht dem Parlament nicht einen allumfassenden Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zu. Es setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzzuordnung seinen Befugnissen Grenzen. Weitreichende - gerade auch politische - Entscheidungen gibt es der Kompetenz anderer oberster Staatsorgane anheim, wie zum Beispiel die Bestimmung der Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler (Art. 65 Satz 1 GG), die Auflösung des Bundestages (Art. 68 GG), die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 GG) oder wichtige außenpolitische Entscheidungen, wie etwa über die Aufnahme oder den Abbruch diplomatischer Beziehungen. Dem Bundestag, der solche Entscheidungen mißbilligt, verbleiben seine Kontrollbefugnisse; er kann gegebenenfalls einen neuen Bundeskanzler wählen und damit den Sturz der bisherigen Bundesregierung bewirken; er kann von seinen Haushaltskompetenzen Gebrauch machen - nicht aber erkennt ihm das Grundgesetz eine Entscheidungskompetenz in diesen Fragen zu. Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden. Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehrten. Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus der in Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers. Auch die unmittelbare personelle demokratische Legitimation der Mitglieder des Parlaments führt nicht schlechthin zu einem Entscheidungsmonopol des Parlaments. Die verfassunggebende Gewalt hat in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG auch die Exekutive als verfassungsunmittelbare Institution und Funktion geschaffen; ihre Verfahren zur Bestellung der Regierung verleihen ihr zugleich eine mittelbare personelle demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. Das aber schließt es aus, aus dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie einen Vorrang des Parlaments und seiner Entscheidungen gegenüber den anderen Gewalten als einen alle konkreten Kompetenzzuordnungen überspielenden Auslegungsgrundsatz herzuleiten. Auch die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, vermag die von der Verfassung zugeordneten Entscheidungskompetenzen nicht zu verschieben. |
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Current revision as of 17:43, 5 February 2007
(Parlamentsvorbehalt) Das Grundgesetz spricht dem Parlament nicht einen allumfassenden Vorrang bei grundlegenden Entscheidungen zu. Es setzt durch die gewaltenteilende Kompetenzzuordnung seinen Befugnissen Grenzen. Weitreichende - gerade auch politische - Entscheidungen gibt es der Kompetenz anderer oberster Staatsorgane anheim, wie zum Beispiel die Bestimmung der Richtlinien der Politik durch den Bundeskanzler (Art. 65 Satz 1 GG), die Auflösung des Bundestages (Art. 68 GG), die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 GG) oder wichtige außenpolitische Entscheidungen, wie etwa über die Aufnahme oder den Abbruch diplomatischer Beziehungen. Dem Bundestag, der solche Entscheidungen mißbilligt, verbleiben seine Kontrollbefugnisse; er kann gegebenenfalls einen neuen Bundeskanzler wählen und damit den Sturz der bisherigen Bundesregierung bewirken; er kann von seinen Haushaltskompetenzen Gebrauch machen - nicht aber erkennt ihm das Grundgesetz eine Entscheidungskompetenz in diesen Fragen zu. Die konkrete Ordnung der Verteilung und des Ausgleichs staatlicher Macht, die das Grundgesetz gewahrt wissen will, darf nicht durch einen aus dem Demokratieprinzip fälschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts unterlaufen werden. Aus dem Umstand, daß allein die Mitglieder des Parlaments unmittelbar vom Volk gewählt werden, folgt nicht, daß andere Institutionen und Funktionen der Staatsgewalt der demokratischen Legitimation entbehrten. Die Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt beziehen ihre institutionelle und funktionelle demokratische Legitimation aus der in Art. 20 Abs. 2 GG getroffenen Entscheidung des Verfassungsgebers. Auch die unmittelbare personelle demokratische Legitimation der Mitglieder des Parlaments führt nicht schlechthin zu einem Entscheidungsmonopol des Parlaments. Die verfassunggebende Gewalt hat in Art. 20 Abs. 2 und 3 GG auch die Exekutive als verfassungsunmittelbare Institution und Funktion geschaffen; ihre Verfahren zur Bestellung der Regierung verleihen ihr zugleich eine mittelbare personelle demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. Das aber schließt es aus, aus dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie einen Vorrang des Parlaments und seiner Entscheidungen gegenüber den anderen Gewalten als einen alle konkreten Kompetenzzuordnungen überspielenden Auslegungsgrundsatz herzuleiten. Auch die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, vermag die von der Verfassung zugeordneten Entscheidungskompetenzen nicht zu verschieben.