Faust vs. Hiob
From Anthologia
DIE BEZIEHUNG HERR – MEPHISTOPHELES IM „PROLOG IM HIMMEL“ DER TRAGÖDIE „FAUST“
IN DER HIOB-INTERTEXTUALITÄT
Tobias Urban
Contents
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Einleitung
Ausgangspunkt und Problemstellung
Die vorliegende Arbeit untersucht die Beziehung zwischen dem Herrn und Mephistopheles im „Prolog im Himmel“ der Tragödie „Faust“ in Hinsicht auf einen intertextuellen Bezug des Hiob-Buches. Die Bestimmung der Beziehung erfolgt, indem der hebräische Verständnis-horizont des intertextuellen Hiob-Stoffes wahrgenommen und beschrieben wird. Den Ausgangspunkt für die Untersuchung bildet die Frage nach vorliegender Form und Funktion einer Hiob-Intertextualität. Nach sorgfältiger Beziehungsreflexion im AT/ Hiob-Buch und dem „Prolog im Himmel“ soll eine anthropologische Lesart des Prologs im Himmel vorgeschlagen werden, um so einer möglichen Fehldeutung (theologischen Lesart) mit Wirkung auf die Beziehung Herr-Mephistopheles vorzubeugen.
„Faust“ in der Hiob-Intertextualität
Goethes „Faust“ ist eine Dichtung, die auf vielfältige Art und Weise dialogische Beziehungen zu anderen Dichtungen herstellt. Mit der Theorie und Problematik solcher Betrachtung beschäftigt sich die Intertextualitätsforschung. Wie zu zeigen ist, weist „Faust“ intertextuelle Bezüge zum Hiob-Buch auf. Folgend soll der Begriff Intertextualität definiert werden. Von den allgemeine Formen und Funktionen der Intertextualität soll die Anwendbarkeit auf die Hiob-Intertextualität überprüft werden.
Der Intertextualitätsbegriff
Intertextualität meint die Herstellung dialogischer Beziehungen zu anderen Texten. Die Anregung zur Systematisierung[1] der Intertextualität geht v.a. von Bachtin und den Bachtin-Interpreten (Tzvetan, Todorov, Julia Kristeva usw.) aus. Gérard Genette entwickelte eine groß angelegte Intertextualitätstheorie, abgewandelt von Peter Stocker, auf die folgend eingegangen werden soll. Dennoch bleibt zu vermerken, dass in der Debatte um die Bedeutung des Begriffes Intertextualität Unstimmigkeit herrscht. Vor allem die Frage, wie weit der Begriff zu fassen sei, wird kontrovers diskutiert. Mittlerweile steht der Begriff Intertextualität als Homonym für zwei verschiedene Sachverhalte: für Zitate oder zitatähnliche Beziehungen und für Textbeziehungen im weitesten Sinne.
Allgemeine Formen der Intertextualität und ihre Anwendbarkeit auf die Hiob-Intertextualität
Genette beschreibt die Gesamtheit aller möglichen Beziehungen zwischen Texten als Transtextualität. Innerhalb dieser werden fünf Gruppen unterschieden: Intertextualität[2] (Zitate, Plagiate, Anspielungen), Paratextualität (Überschriften, Anmerkungen), Metatextualität (Rezensionen), Hypertextualität (Parodien, Travestien) und Architextualität (Gattungsbezüge). Die Form der Intertextualität[3] zum Buch Hiob ist im „Faust“ vorhanden, denn es gibt auffällige Zitate und Anspielungen, sogenannte Markierungen[4]. Neben der Intertextualität scheint es auch einen hypertextuellen Bezug zum Buch Hiob zu geben. Die Hypertextualität ist die kommentarlose Transformation eines Prätextes. „Eine Beziehung zwischen zwei Texten heißt genau dann hypertextuell, wenn einer dieser Texte (Hypertext) den anderen (Prätext) in augenfälliger Weise imitiert.“[5] Formen wie die Parodie und Travestie gehören zur Hypertextualität. „Faust“ weist eben diese Hypertextualität zum Buch Hiob auf, wenn der Prolog im Himmel als eine Parodie auf das Hiob-Buch gesehen werden kann. „Eine Parodie ist ein Gegengesang, auf eine Vorlage (Einzeltext, Gattung) bezogener Text, der diese durch Techniken wie stilistische Übertreibung und bewusste Verzeichnung von Thema und Aussage in komischer oder satirischer Weise beleuchtet oder herabgesetzt.“[6] Die ursprüngliche äußere Form bleibt dabei erhalten, der Inhalt aber wird verzeichnet, so dass unwillkürlich der Eindruck von Komik entsteht. In diesem Sinne lässt sich der „Prolog im Himmel“ auch als Parodie betrachten, da er die sprachliche Form des biblischen Hiob-Textes beibehält, doch inhaltlich modernistisch verzeichnet, wie in Abschnitt 3.1 und 3.2 am Faust-Text noch konkret aufzuzeigen ist. Der Eindruck von Komik ist im Prolog bei gekannter Intertextualität des Lesers zweifellos gegeben.
Allgemeine Funktionen der Intertextualität und ihre Anwendbarkeit auf die Hiob-Intertextualität
Es wird unterschieden zwischen polyvalenten Funktionen der Intertextualität und konzeptionellen Funktionen[7]. Erstere reichen von der Figurencharakterisierung und Beschreibung über die Kommentierung der Erzählinhalte und Antizipation bis hin zur Dramatisierung eines Textes. Auch die durch den hypertextuellen Bezug hergestellte Parodie ist dort einzuordnen, denn die Diskrepanz zwischen äußerer Form und Bedeutungsinhalt erzeugt Komik, die funktional intendiert ist. Stocker unterscheidet bei den konzeptionellen Funktionen zwischen einer kulturellen Funktion (Gedächtnis-, Erinnerungsfunktion), einer poetischen Funktion (semantischem Mehrwert) und einer textstrategischen Funktion (Leserlenkung). Die kulturelle Funktion bedeutet die Potenzierung des kulturellen Gedächtnisses. Die Erinnerungskunst sieht in der Intertextualität eine Kunst und Errungenschaft, mit der die Kultur ihr eigenes „Erinnerungsvermögen“ erhöht, damit sie ihre „Identität und Kontinuität“ gewährleisten kann. ,,Literarische Texte sind die Gedächtnisstifter einer Kultur. Der Bezug zur Intertextualität ergibt sich aus der Vermutung, der Raum zwischen den Texten könnte der eigentliche Gedächtnisraum sein.“[8] Die Hiob-Intertextualität füllt folglich diesen Gedächtnisraum mit der Hiobgeschichte und ihrer eigenen Problematik, z.B. ihrer Theodizee-Frage, und trägt so zur Identitätsbildung der Kultur bei. Die poetische Funktion[9] bedeutet, dass der Intertextualität eine poetische Qualität zukommt, da sie ebenfalls eine Abweichung und Verletzung „pragmatisch-sprachlicher Normen“ bedeutet und so eine „reichere“ Sprache[10] bildet. Die textstrategische Funktion meint die indirekte Beeinflussung des Lesers, indem er den Prätext in seine Rezeption mit einfließen lässt. Bezogen auf die Hiob-Intertextualität, bedeutet dies für den Leser, den Prolog im Himmel mit der Deviation auf den Hiobtext rezipieren zu müssen, wobei die Geschichtlichkeit und spezifische Modernität des Faust-Textes deutlich wird. Die zustande kommende Wechselwirkung beim Leser, erzwungen durch jene Textstrategie, bildet den Kern jeder geglückten Intertextualität. Die Anwendbarkeit auf die Hiob-Intertextualität ist bei den konzeptionellen Funktionen m.E. nicht konkretisierbar, da es sich hier um generalisierte Konzeptionen handelt, deren Aussagen auch nur allgemein als sinnvoll erscheinen.
Die Beziehung JHWH–Satan im Buch Hiob
Das theologische und anthropologische Paradigma des Hiob-Buches
Die AT-Theologie versucht die Gesamtheit des alttestamentlichen Stoffes zu erfassen und wiederzugeben. Die Anordnung des Stoffes in AT-Theologien kann nach drei Dimensionen[11] erfolgen. Die Vorgehensweisen kann man als systematisches, historisches und literarisches Paradigma fassen. Die systematische Dimension ordnet den Stoff alttestamentlicher Glaubensaussagen thematisch-logisch, häufig wird für deren grobe Zusammenstellung das Raster[12] Theologie-Anthropologie verwendet. Dieses Raster lässt sich auf das Buch Hiob gut anwenden. Die theologische Fragestellung richtet sich auf das Wesen und Handeln Gottes, die anthropologische auf das für den Menschen unbegründbare individuelle Leid. Das in der Himmelszene Geschilderte darf aber nicht zum universalen Deuteschema[13] für das Verhältnis zwischen Mensch, Gott und Satan erhoben werden. Unter Einbeziehung der literarischen makrostrukturellen Dimension lässt sich begründen, dass das Buch Hiob innerhalb der hebräischen Bibel nicht den Status hat, das theologische Rahmenparadigma für das Verhältnis Gott-Mensch zu liefern. Diese Aufgabe kommt vielmehr dem Pentateuch zu.
Der alttestamentliche Gottesbegriff
Das Buch Hiob lässt sich theologisch nicht isoliert betrachten. Eine mögliche Betrachtung kann nur im theologischen Kontext erfolgen. Das Buch Hiob leistet als Bibeltext seinen Beitrag zum biblischen Gottesverständnis, aber ebenso bestimmt der alttestamentliche Gottesbegriff auch die Exegese des Hiob-Buches. Daher erscheint es notwendig, ebenso das alttestamentlich-theologische Vorverständnis aufzuzeigen. Der geschichtlichen Offenbarung des Gottesnamens kommt dabei im hebräischen Verständnis zentrale Bedeutung zu – „Nach antiker Vorstellung war der Name nicht Schall und Rauch, sondern es bestand zwischen ihm und seinem Träger [...], und deshalb enthält der Name eine Aussage über das Wesen seines Trägers oder doch etwas von der ihm eigenen Mächtigkeit.“[14]. Auf die Frage Moses hin, offenbart sich Gott, aus dem brennenden Dornbusch heraus, in seinem Namen (Ex 3, 9-15): „Gott sprach zu Mosche: Ich werde dasein, als der ich dasein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Söhnen Jisraels sprechen: ICH BIN DA schickt mich zu euch.“[15] Hier wird verdeutlicht, dass Gottes Sein immer ein „Dasein für“ die Angeredeten ist. Dieser Name, der, wenn man ihn ausspricht, „Jachwä“[16] lautet, beinhaltet den Zuspruch Gottes „Ich werde dasein“. Eine weitere Grundkomponente des alttestamentlichen Gottesbegriffes ist seine sogenannte „Eiferheiligkeit“. Die Eiferheiligkeit Gottes ist eine Äußerung der „Heiligkeit Jahwes“. Das erste Gebot redet von dieser: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ (Ex 20, 1.3). Es folgt eine Begründung des ersten Gebots: „denn ich, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ (Ex 20, 5). Die Eiferheiligkeit Gottes ist nicht nur Folge seiner Heiligkeit, sondern auch seiner Liebe, da er in seinem „Dasein für“, in seiner Verhältnismäßigkeit zum Volk Israel und zum Menschen der Alleinige sein möchte. Es lässt sich folglich die Verhältnismäßigkeit zwischen Gott und Satan konstituieren, denn der alttestamentliche Gottesbegriff ist das bestimmende Moment in dieser Verhältnismäßigkeit, da sein „Dasein für“ und die sich daraus ergebende Fürsorge und Eiferheiligkeit zum Menschen gleichsam die Beschränkungen Satans bestimmen. Die Beziehung JHWH-Satan darf und muss aus diesem Grunde theologisch allein von Gott aus bestimmt werden.
Der Gottesbegriff als Konstituente der JHWH-Satan-Beziehung
Diese alttestamentliche Verhältnisbestimmung schließt somit jegliche dualistische Sichtweise aus. Der Dualismus ist die Grundlage aller Lehre von der Weltentstehung, welche die Umwandlung eines chaotischen Urzustandes in die Ordnung dieser Welt zum Inhalt hat. Dabei wird angenommen, dass sich von Anfang an zwei feindliche Mächte gegenüberstehen, zum Beispiel die Welt des Geistes und des Lichtes der Welt der Materie und der Finsternis[17]. In der hebräischen Vorstellung fehlt - das Buch Hiob mit eingeschlossen - das dualistische Gepräge späterer Zeit. Die Verhältnisbestimmung geschieht demnach allein über die Person Gottes, die den Dualismus verneint. Da die Eiferheiligkeit die Grundkomponente des alttestamentlichen Gottesbegriffes bildet, muss die Herausforderung Satans im Buch Hiob von dieser aus gedeutet werden. Die Herausforderung Satans erscheint nun als Appell an die Eiferheiligkeit Gottes. Gottes Reaktion auf die Herausforderung Satans ist demnach keine Willkür, Versuchung, Prüfung und schließlich auch keine Wette, sondern die Folge seiner Eiferheiligkeit. Da Gott um seinen heiligen Namen und um seine Einzigartigkeit eifert, ermächtigt er Satan zum Vorgehen gegen Hiob, und zwar unter dem Vorbehalt, dass Satan die Person Hiobs nicht antasten darf. Das Wort Gottes an Satan ist ein göttliches Geheiß. Es handelt sich nicht um eine Zulassung, sondern um eine Ermächtigung. Diese Sichtweise resultiert zwangsläufig aus dem biblischen Verständnis, dass Gott allmächtig ist. Nun lässt sich die Beziehung JHWH-Satan als eine klar über- und untergeordnete beschreiben, bei der Satan keine eigenmächtigen Befugnisse aufweist.
Die Wesensbestimmungen Satans
Wie zuvor in Anschnitt 2.2 und 2.3 dargelegt, lässt sich die Person Satans nur als durch das Wesen Gottes beschränkt und in der Beziehung zu Gott als untergeordnet verstehen. Im Buch Hiob wird Satan eindeutig als eine zu der göttlichen Sphäre gehörende Person gekennzeichnet. Er zählt zu der Gattung der „Söhne Gottes“ und ist ein Einzelwesen der göttlichen Sphäre. Unter „Söhne Gottes“ sind Wesen zu verstehen, die zur Sphäre des Göttlichen gehören, ohne dass der Gedanke einer Vaterschaft Jahwes mitspielt. Die „Söhne Gottes“ sind zu ganz bestimmten Aufgaben geschaffen. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass sie sich an bestimmten Tagen „vor Jahwe stellen“. „Das Zeitwort „sich vor jemanden stellen“ (hebr. jşb) ist ein stehender Ausdruck für eine Dienerstellung. Diese Dienerstellung ist einmal ein Ehrenvorrecht und verleiht eine gewisse Würde, zum anderen setzt sie die schlechthinige Abhängigkeit und Unterwürfigkeit voraus.“[18] Der Begriff „sich vor Jahwe stellen“ bezeichnet die „Söhne Gottes“ demnach als Boten in Gottes Dienst. Unter den Boten in Gottes Dienst befindet sich auch Satan. Er gehört zur Gattung der „Söhne Gottes“ und ist damit absolut undualistisch in die himmlische Versammlung eingegliedert. Er steht nicht neben, sondern unter Gott. An nahezu allen Stellen im Alten Testament ist Satan durch die Verbindung mit dem Artikel („der Satan“) rein sprachlich gesehen nicht Eigenname, sondern schwerpunktmäßig Funktionsbezeichnung, Beschreibung einer Eigenschaft oder ganz einfach Titel. Die Bedeutung des Namens oder genauer des Titels „Satan“ geht zurück auf ein Zeitwort (hebr. śţn bzw. śtm), das soviel heißt wie „sich widersetzen“, „anschuldigen, anfeinden“, aber auch „nachstellen“[19]. Die Rolle, die Satan spielt, ist in den einzelnen Abschnitten des Alten Testaments klar umrissen. Das Buch Hiob lässt ebenfalls Einblicke in das Wesen Satans zu. Wie ganz selbstverständlich erscheint Satan vor Gottes Thron (Hi 1, 6-12), denn da er von seinem Ursprung her keine unabhängige oder eigenständige böse Macht ist, besitzt er Zugang zu Gottes Thron. Satan zeigt sich als Widerspruchsgeist, indem er Gottes Urteil über Hiob in Frage stellt. Sein Widerspruch ist eingebettet in die satanische Frage nach dem Umsonst (Hi 1, 6-8). Bei seinem zweiten Auftritt in der himmlischen Versammlung (Hi 2, 3-5) behauptet Satan, Hiob habe sich wie alle anderen der Ethik des Tausches verschrieben. Satan bringt Hiob in üblen Ruf, er verlässt seine Botenrolle und wird zum Verleumder – „Als Verleumder und Feind des Menschen ist Satan die verkörperte Bedrohung der menschlichen Existenz.“[20].
Das Mittel der Frage als Wesensmitteilung
Das sprachliche Mittel der Frage kann nicht allein auf ihren Zweck der Wissensaneignung reduziert werden, denn dem Fragen wohnt immer wesenhaft eine latente Botschaft inne. In diesem Sinne kann man wohl auch von einer Epistemologie des Fragens[21] sprechen. Zwei Fragen, jeweils eine von Gott und Satan ausgehende, sind im Hiob-Buch näher zu betrachten, um Rückschlüsse auf die Beziehung JHWH-Satan zu gewinnen.
Die Frage Gottes „Wo kommst du her?“
Die an Satan gerichtete Frage: „Wo kommst du her?“ (Hi 1, 7.8) kennzeichnet Satan bzw. die Söhne Gottes als „Augen Gottes“. Satan, der in der himmlischen Versammlung keineswegs als Eindringling erscheint, hat sich von seinen Streifzügen auf der Erde wieder im Himmel eingefunden. Zum anderen impliziert die Frage, dass Satan sich vor Gott rechtfertigen muss. Das Fragen vermengt hier Moral, vor der sich Satan selbst rechtfertigt, mit Logik, durch deren Mittel etwas begründet, belegt wird. Auch wird hier die Überlegenheit Gottes deutlich, der das alleinige Recht besitzt, Satan nach seiner Herkunft zu fragen. Erst in der zweiten Frage Gottes fällt der Name Hiob. Gott will wissen, ob Satan in seiner Funktion als „Auge Gottes“ bewusst auf Hiob Acht hatte. Dass Gott selber den Namen Hiobs zuerst nennt, macht deutlich, dass er gegenüber Satan keine passive Stellung einnimmt, sondern seine Absichten mit Hiob verfolgt.
Die satanische Frage nach dem Umsonst
Satan gibt die in höchster Instanz bestätigte Frömmigkeit Hiobs zu und hinterfragt sie zugleich „Meinst du, dass Hiob umsonst fürchtet?“ (Hi 1, 9-11). Die Frage charakterisiert Satan wieder als Widerspruchsgeist. Das Satanische dieser Frage ist einmal ihre Doppelzüngigkeit, zum anderen die enthaltene Verdächtigung Hiobs. Satan unterstellt Hiobs Frömmigkeit ein materialistisches Interesse. Er sieht in Hiobs Frömmigkeit nichts anderes als ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Satan spricht Hiob die Liebe zu Gott ab und gibt Gott indirekt selbst die Schuld, denn er wirft ihm parteiisches Verfahren zugunsten Hiobs vor. Somit nimmt Satan in der Beziehung zu Gott auch die Rolle des Anklägers[22] ein.
Die Beziehung Herr–Mephistopheles im „Prolog im Himmel“
Der Prolog im Himmel als Beziehungsreflexion
Der Prolog im Himmel [V.243-353] schildert das jenseitige Aufeinandertreffen von Herr und Mephistopheles. Dieser Textabschnitt ist daher der signifikante, wenn es um die Beziehung zwischen dem Herrn und Mephisto gehen soll. Partikulare Markierungen[23] der Hiob-Intertextualität sind auch außerhalb des Prologs zu finden, doch geben sie keine weiteren Hinweise auf die ursprüngliche Frage der Verhältnismäßigkeit. Später folgende - vor allem implizite - Charaktermerkmale Mephistos, die allenfalls auf die Beziehung zum Herrn wirken könnten, weisen keinen direkten Bezug mehr zur Hiob-Intertextualität auf. Diese Beobachtungen begründen den Rahmen des Prologs im Himmel für eine Beziehungsreflexion. Der Prolog beginnt mit dem Gesang der Erzengel, in dem sie die Schöpfung Gottes preisen (V. 243-70), darauf folgt ein Dialog zwischen dem Schöpfer und Mephistopheles, dem Verneiner des Geschaffenen. Der Gesang der Erzengel handelt von dem unergründlichen, Chaos und Ordnung, Vernichtung und Harmonie umfassenden Ganzen der Werke des Herrn. Durch Reduktion der harmonisch-chaotischen Werke auf die alleinige Ordnung eines sanften Herrn der Schöpfung und seinen Heil bewirkenden Taten wird Mephistopheles notwendig gemacht und erscheint nun „unter dem Gesinde“ (V. 274) - das heißt also nicht als einer von ihnen, sondern nur in ihrer Menge. Er kommt dabei nicht zum immergegenwärtigen Herrn, sondern der Herr naht sich „einmal wieder“ (V. 271), ist also seit Hiobs Zeiten[24] weiter von der Welt weggerückt. Dass der Herr sich naht und nicht Mephisto, lässt schon darauf hindeuten, dass verglichen mit dem Hiob-Buch eine Inversion der Beziehung Herr-Mephisto vorliegt. Die Rolle der Satansfigur Mephistopheles gegenüber dem Herrn ist dabei im Prolog unbestimmt. Die scheinbar von Mephisto akzeptierte Überlegenheit des Herrn wird zugleich konterkariert. Nachdem die vertrauliche Anrede: „Da du, o Herr dich wieder einmal nahst“ (V. 271) Gleichrangigkeit suggeriert, verfällt Mephisto, sobald die Rede auf Faust kommt, auf ein unterwürfiges „ihr“. Er protestiert auch nicht gegen die Herabstufung auf ein Mittel mit dem Zweck, die menschliche Produktivität anzuregen, noch auf die Einstufung als Schalk. Der Herr ordnet dem Menschen diesen Schalk zu, „Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen“, weil der Mensch zur Trägheit[25] neige (V. 338-43). Diese Arbeit kann ein auf den sanft wandelnden Tag reduzierter Herr nicht selbst übernehmen. Es scheint, als brauche der Herr einen Schalk, weil er sich selbst „das Lachen abgewöhnt“ (V. 278) hat[26]. Im Gegensatz dazu, wird der Gott des Alten Testaments in den Psalmen[27] auch als ein über die Feinde lachend triumphierender anthropomorphisiert. Dennoch hält Mephisto seine spitze Zunge im Zaum, trotz der fast demütigenden Belehrung über seine Funktion (V. 336-42). Allerdings gesteht der Herr Mephisto auch eine gewisse Autonomie zu (V. 336). Als aber Mephisto allein ist, nennt er den Herrn respektlos „den Alten“ (V. 350). Er meint, mit dem „Alten“ jederzeit „brechen“ zu können, d.h. in einem freien Vertragsverhältnis zu ihm zu stehen. Doch die Macht Gottes scheint er dennoch zu akzeptieren: „Und hüte mich, mit ihm zu brechen“ (V. 351). Das Werk des Herrn, besonders die Rolle des Menschen, lehnt er aber dezidiert ab. Er hält den Menschen für eine misslungene Schöpfung, da er sich durch die Vernunft („Schein des Himmellichts“ [V. 284]) vom Tier unterscheidet und doch in seinem Handeln durch die Vernunft „tierischer als jedes Tier“ (V. 286) ist. Der Dialog scheint als ein Gespräch zweier Diplomaten, die mit gewählten Formulierungen den anderen für ihre eigenen Ziele und Ansichten gewinnen wollen. Das ursprüngliche klare Herr-Knecht-Verhältnis ist folglich nicht mehr erkennbar.
Die Rahmenwette des Prologs im Himmel als theologische Unmöglichkeit
Die Erzengel rühmen den Kosmos und die hohen Werke des Herrn, doch Mephistopheles hat gewichtige Einwände gegen die Harmonie der Welt. Er sieht den entscheidenden Gegenbeweis in der Beschaffenheit des Menschen, denn der Mensch habe zu wenig Vernunft, um vernünftig zu sein, und zu viel Vernunft, um wohlig ein Tier sein zu können. Demgegenüber beansprucht Mephisto den Menschen verbessern zu können, indem er ihn von dem unerträglichen Widerspruch zwischen Himmel und Erde entlastet und ihn ganz auf die Erde zurückbringt. Der Herr verweist auf Faust („Kennst du den Faust?“ [V. 299]), um Mephistos Kritik auf den Menschen, der ja die Krone der Schöpfung ist, zu widerlegen. Mephisto bietet eine Wette an, was gegenüber dem Herrn eine „mephistophelische Unverschämtheit“[28] darstellt, denn nur unter Gleichrangigen, nicht institutionell Abhängigen, kann eine Wette abgeschlossen werden, die das Fortbestehen der Institution betrifft. So spricht Mephisto, der sich unabhängig weiß, zweimal von einer Wette (V. 312.331), während der Herr, der Mephisto als seinen Funktionär betrachtet, sich auf den Begriff und den formalen Akt der Wette nicht einlässt. Er ist es aber, der als erster den Wetteinsatz nennt: „Und steh’ beschämt, wenn du bekennen mußt...“ (V. 326), den dann Mephisto in gleicher Weise aufstellt: „Wenn ich zu meinem Zweck gelange,/ Erlaubt ihr mir Triumph aus voller Brust.“ (V. 332f.). Dies ist also keine Wette auf Fausts Streben, bei der es um Gewinn oder Verlust von Fausts Seele ginge, sondern es ist eine Wette auf die Theodizee und Homodizee[29], mit den sich stellenden Fragen nach der Qualität der Schöpfung und des Menschen. Bei der Wette geht es um nichts Geringeres als die Herrschaft über den Kosmos, und Faust ist der „Knecht“, an dem die Wette ausgefochten wird. Die Beschämung des Herrn würde das Ende seiner auf Allmacht gegründeten Herrschaft bedeuten. Im Zusammenhang dieser Rahmenwette kommen dem Herrn charakteristische Züge zu. So überlässt der Herr die Angelegenheit „Faust“ Mephisto, ohne hierbei Grenzen dieser Delegation festzulegen „So lang′ er auf der Erde lebt,/ So lange sei dir′s nicht verboten.“ (V. 315f.). Er überlässt seinen „Knecht“ dem Wirken und dem Einfluss Mephistos und entzieht sich dabei der Delegation und folglich dem Menschen "Nun gut, es sei dir überlassen!" (V. 323). Der Herr hat nun, vertrauend auf seine eigene Schöpfung, mit dem Menschen nichts mehr zu schaffen. Die theologische Unmöglichkeit dieses Geschehens ist kaum zu übersehen. Der biblische Gott zeigt sich hingegen als ein sich zu dem Menschen hinwendender Gott[30]. So überlässt er Hiob nicht einfach dem Satan (Hi 1, 12) - vielmehr legt er genaue Grenzen fest, wie weit der gehen dürfe. Auch das Ende des Hiob-Buches mit der heilenden Begegnung und Zuwendung Gottes zu seinem Knecht Hiob zeigt, dass er ihn zu keiner Zeit aus den Augen verliert. Die theologische Unmöglichkeit der gesamten Herr-Mephisto-Beziehung, die im Prolog konstituiert wird, deutet darauf hin, dass eine theologische Lesart des Hiob-Prätextes nicht ohne gravierende theologische Implikationen übernommen werden kann. Die entstehenden Inkohärenzen und Inkonsistenzen schließen aber eine theologisch-sinnvolle Deutung aus. Vielversprechend scheint hingegen, eine anthropologische Lesart auf den Prolog im Himmel anzuwenden.
Die Anthropologisierung als bestimmendes Konzept
Eine Reduktion auf die anthropologische Lesart erscheint sinnvoll, weil die Rahmenwette eindeutig als Homodizee aufzufassen ist, weil Faust als Knecht des Herrn den Anspruch einer religiösen Rechtgläubigkeit keineswegs erfüllt. Karl Eibl bezieht den göttlichen Selbstentzug auf die Bedeutung des ganzen Prologs: „Der ganze Prolog kann als Akt der Entlassung aus der Vormundschaft des Herrn gedeutet werden. Hinter dem ironisierten Formulierungs-material läßt sich eine thematische Exposition ausmachen, die den gesamten weiteren Text bestimmen wird: Die Emanzipation Fausts. Und zwar nicht in dem neueren Wortsinn, daß jemand sich emanzipiert, sondern in dem aus der antiken Welt kommenden Sinn, daß jemand emanzipiert wird, d.h. aus der Herrschaft und dem Schutz eines Herrn entlassen, wenn nicht gar verstoßen wird.“[31] Der Herr als theologische Bestimmung ist sinnlos geworden. Er ist in der anthropologischen Lesart lediglich das Mittel, welches den Anstoß aller Dinge verursacht und den Menschen in seine Individualität „entlässt“ – „Faust wird angekündigt als exemplarischer Fall moderner Individualität, die, da sie nicht mehr ′bestimmt′ ist, sich selbst auf die Suche nach der Bestimmung des Menschen machen muß.“[32] Die sich weiter aufdrängende Frage ist, welche Sichtweise in der anthropologischen Lesart auf Mephisto fällt. Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Mephisto wird als verneinender Geist vorgestellt „Von allen Geistern die verneinen/ Ist mir der Schalk am wenigstens zur Last.“ (V. 338.39). Mephisto verkörpert das anthropologisch-produktive Prinzip – dass Gegensätze eine Spannung bewirken, die das Lebendige zur Steigerung anreizt und nicht in einem Dualismus erstarren lässt. Das Gute wird demnach noch besser, wenn es durch die Feuerprobe des Bösen hindurchgegangen ist. Was im Prolog nur angedeutet erscheint, wird an der Geschichte des Faust exemplifiziert. Zwischen Faust und Mephisto gibt es jene polare Spannung, die zur Steigerung führt. Faust strebt hinauf und Mephisto zieht hinunter. Das Resultat dieser gegenstrebigen Bewegungen „hinauf“ und „hinunter“ ist die Bewegung „hinaus“. Aber die Vertikale bleibt in Spannung mit der Horizontalen, und daraus entsteht etwas Produktives. Mephisto führt Faust „hinaus“ ins volle Leben. Mephisto schafft an, und Faust macht mehr daraus. Faust verwandelt Natur mit Hilfe Mephistos in Kultur. In der anthropologischen Lesart verkörpert Mephisto dieses dialektische Prinzip des Menschen bzw. der Natur. Im Hiob-Buch stehen Theologie und Anthropologie gleichberechtigt im Zentrum gegenüber, wobei die Tragödie „Faust“ sich allein auf das Menschenbild konzentriert. Bei „Faust“ geht es um die Darstellung der geistigen Entwicklung des Menschen, die Geschichte seines Werdens und die seelische Entfaltung seines Lebens und Strebens, im Hiob-Buch um die Frage nach dem Sinn von persönlichem Leid und der Unergründlichkeit der Wege Gottes für den Menschen. Eine ergiebige und sinnvolle Reflexion der Beziehung zwischen dem Herrn und Mephistopheles kann nur in den vorgeschlagenen Lesarten erfolgen.
Das Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Bibelübersetzung nach Martin Luther (rev. 1984, Deutsche Bibelgesellschaft Stuttgart)
Goethe, Johann Wolfgang v.: Faust. Tragödie Erster Teil. (Stuttgart: Reclam 2002)
Sekundärliteratur
Bräumer, Hansjörg: Das Buch Hiob. Kapitel 1-19 (Wuppertal: R.Brockhaus Verlag 1992)
Eibl, Karl: Zur Wette im Faust (20.02.2004). In: Goethezeitportal. URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/faust_eibl.pdf> (17.11.2004)
Gaier, Ulrich: Erläuterungen und Dokumente. Faust. Der Tragödie Erster Teil (Stuttgart: Reclam 2001)
Rad, Gerhard v.: Theologie des Alten Testaments I (München: 1987)
---.: diabolos, In: ThWNT, Bd. II
Steinberg, Julius: Die Ketuvim. Ihr Aufbau und ihre Botschaft, Theol. Diss. (Leuven: 2004)
Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien (Paderborn: Ferdinand Schöningh 1998)
Trunz, Erich: Goethes Faust, textkritisch durchgesehen und kommentiert (München: Verlag C.H.Beck 1989)
Nachschlagewerke
Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur (Stuttgart: Reclam 1999)
Fußnoten
[1] Vgl. Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, S. 254
[2] Bei Genette steht „Intertextualität“ für Zitate und zitatähnliche Beziehungen, bei Stocker allerdings für Textbeziehungen im weitesten Sinne
[3] Bei Stocker: Palintextualität
[4] Vgl., [V. 299 – Hi 1,8], [V. 312 – Hi 1,11] etc. Die Wörtlichkeit erschließt sich bei Benutzung der Luther-Übersetzung
[5] Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre: Modelle und Fallstudien, S. 60
[6] Meid, V.: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, S. 386
[7] Vgl., Stocker: Theorie der intertextuellen Lektüre, S. 75
[8] Ebd., S. 76
[9] Ebd., S. 80
[10] Da sich die poetische Qualität nicht in der Wohlgeformtheit des Ausdrucks zeigt, sondern in der Verletzung sprachlicher Normen, besitzt sie keine „reinere“ sondern „reichere“ Sprache
[11] Vgl., Steinberg, Julius: Die Ketuvim. Ihr Aufbau und ihre Botschaft, Theol. Diss. Leuven: 2004, S. 2-4
[12] Vgl., Steinberg, Die Ketuvim, S. 4-6
[13] Vgl., Steinberg, Die Ketuvim, S. 248-50
[14] Rad, Gerhard v.: Theologie des Alten Testaments I, S.195
[15] Nach der Übertragung von Franz Rosenzweig und Martin Buber, da sie dem Sinn des hebräischen Textes am nächsten kommen
[16] In der Verdeutschung der hebräischen Konsonantenzeichen „JHWH“ als theologischer Terminus geläufig
[17] Die Beziehung Gott-Satan dualistisch zu erklären, nahm ihren Ausgangspunkt bei babylonischen und assyrischen Texten. Die dualistische Sichtweise wurde dann zum Bestandteil gnostischer Systeme in der Spätantike. Im 3. Jh. n. Chr. entstand der Manichäismus, der in sich buddhistische, jüdische und christliche Lehren vereinte, und ein dualistisches Weltbild zum Paradigma erhob. Sogar der Altprotestantismus wurde verschiedentlich von dualistischen Gedanken beeinflusst.
[18] Bräumer, Hansjörg: Das Buch Hiob. Kapitel 1-19, S. 43
[19] Ebd., S. 42-44
[20] Vgl., Rad, Gerhard v., diabolos, S. 73
[21] A.R. Bodenheimer macht auf diesen epistemologischen Aspekt in seiner psychologischen Abhandlung „Warum? Von der Obszönität des Fragens“ aufmerksam. Auch wenn der Grund- und Titelthese seiner Darstellung nicht zugestimmt werden muss, so bleibt die Forderung, das Wesen und die Bedeutung des Fragens näher zu betrachten.
[22] Das christliche Verständnis, wonach Christus für den Gläubigen als Fürsprecher vor Gott eintritt, steht in Korrelation zur Rolle Satans als Ankläger
[23] Vgl., [V. 470 – Hi 18,5f.21], [V. 498 – Hi 25, 4-6], [V. 1254f. – Hi 40,15-24], [V. 1562-71 – Hi 7, 13-16] etc.
[24] Vgl., der Gegensatz in Hi 1, 6
[25] so ist Fausts Wette ebenso gegen die Wette gerichtet
[26] Vgl., Gaier, Ulrich: Erläuterungen und Dokumente. Faust. Der Tragödie Erster Teil, S. 23
[27] Vgl., Ps 2,4; 37,13; 59,9
[28] Trunz, Erich: Goethe Faust. Textkritisch durchgesehen und kommentiert, S. 510
[29] Die Homodizee, abgegrenzt von der Theodizee, stellt die Frage, ob der Mensch der bestmögliche aller Möglichkeiten sei
[30] JHWH – „Ich bin der, der immer für dich da war, da ist und da sein wird.“
[31] Eibl, Karl: Zur Wette im Faust, S. 5
[32] Ebd., S. 5